Parlamente und Parlamentarismus in Europa
Parlamentarismus und Parlamentarisierung sind Ergebnisse transnationaler und interdependenter politischer Transferprozesse. Mit ihrem Forschungsschwerpunkt »Parlamente und Parlamentarismus in Europa« trägt die KGParl dieser Tatsache Rechnung. Dabei wird das Ziel verfolgt, bisherige Forschungen der KGParl zum deutschen Parlamentarismus um eine europäisch-vergleichende Perspektive zu erweitern. Damit verbunden ist eine thematische Konzentration auf die Entwicklung parlamentarischer Kultur(en) in Europa. Es gilt, durch vergleichend-systematisierende Untersuchungen Symbole, Rituale und Kommunikationsformen der Parlamente Europa auszuwerten und damit das Potential symbolischer Kommunikation auszuloten. Der Forschungsschwerpunkt knüpft also explizit an anthropologische und kulturgeschichtliche Fragestellungen an.
Ein europäisches Thema mit vergleichenden Fragen kann sinnvollerweise nur in Kooperation mit europäischen Forschungsinstituten untersucht werden. Dies geschieht vor allem mittels internationaler wissenschaftlicher Konferenzen. So initiierte die KGParl die Konferenzserie »Parlamentarische Kulturen in Europa im historischen Vergleich«. Dabei wurden Themen aufgegriffen, die sich ausgehend vom Vergleich für die Diskussion von Grundsatzfragen eignen: »Das Parlament als Kommunikationsraum«, »Lebenswelten von Abgeordneten in Europa«, »Das ideale Parlament« sowie »Antiparlamentarismus und Parlamentarismuskritik«.
Hinter den Kulissen des Parlaments. Die jugoslawische Skupština 1919–1941
Jure Gašparičs Studie ist die deutsche Fassung eines 2015 auf Slowenisch erschienenen, preisgekrönten Buches über das Nationalparlament des Königreichs Jugoslawien. Sie wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Krisensymptome des europäischen Parlamentarismus der Zwischenkriegszeit.
Der Autor zeichnet das farbige Porträt eines unter schwierigsten Bedingungen arbeitenden Parlaments, das aufgrund der dominanten Stellung des Staatsoberhauptes und unter dem Einfluss teils gewaltsam ausgetragener gesellschaftlicher Konflikte nicht in der Lage war, den Aufbau des neuen Staates zu gestalten. Gašparič erzählt auf höchst anschauliche Weise eine Geschichte politischer Skandale, von Korruption und Gewalt, die das öffentliche Ansehen des Parlamentarismus bis weit über die Grenzen Jugoslawiens hinaus erschütterte.
Das Forschungskonzept geht davon aus, dass Gemeinsamkeiten, die im Wesen des Parlamentarismus liegen, auch jenseits einer verfassungs- und politikgeschichtlichen Dimension zu erkennen sind und letztlich politische und kulturelle Prozesse erklärbar machen. Auf der anderen Seite muss das Konzept und die Vorannahme einer gemeinsamen parlamentarischen Tradition sich auch immer wieder in Frage stellen, mit anderen Worte: Es gilt, auch die Unterschiede, ihre Wurzeln und Auswirkungen zu beachten. Besonders zu betrachten ist die oft konstatierte Vorbildfunktion sowohl des englischen Parlaments als »mother of parliament« als auch des französischen Parlamentarismus als Geburtsort der Gewaltenteilung.
In diesem Zusammenhang ist es ein Anliegen der Kommission, nicht nur die besser erforschten westeuropäischen Parlamente, sondern auch die der Nationalstaaten Ostmitteleuropas und deren Vorgeschichte in den multiethnischen Großstaaten des 19. Jahrhunderts einzubeziehen. Immerhin kann – um ein Beispiel zu nennen – auch das ungarische Parlament auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblicken – freilich mit einer anderen neuzeitlichen Entwicklung als das britische Vergleichsbeispiel.
In der Zukunft sollen zudem die vergleichende Parteiengeschichte, die Geschichte der Wahlen und Wahlkämpfe, sowie das Europaparlament mit seiner besonderen Struktur und Kommunikationssituation in die Forschungen miteinbezogen werden.
Laufende Projekte
Tobias Kaiser »Praxisfragen und Grundsatzdikussionen im Europäischen Parlament. Eine Kommunikationsgeschichte der CD/EVP-Fraktion von der Gründung 1952/1953 bis zur Professionalisierung mit und nach der Direktwahl 1979«
Kontakt: Tobias Kaiser