Abgeordnetenleben 1871–1918

Privatleben, Beruf und Mandat – die sozialen und kulturellen Grundlagen parlamentarischer Repräsentation
Hotelrechnung eines Abgeordneten (1885), Nachlass Friedrich Clemens v. Ketteler, © LWL-Archivamt Münster, Sig.: Har.Ke. Schw. Fke. Ak 38.

Die ersten Sitzungswochen des im Frühjahr 1877 neugewählten liberalen Reichstagsabgeordneten Friedrich von Payer (1847–1931) standen unter keinem guten Stern: In täglichen Briefen an seine Ehefrau Alwine in Stuttgart klagte er über Heimweh, das schlechte Berliner Wetter, so teure wie unbefriedigende Theatervorstellungen und langweilige Reichstagssitzungen. Ein unfreiwilliger Umzug aus einem angemieteten Privatzimmer in eine Hotelwohnung – »Kosten inklusive Bedienung täglich 3 Mark« – machten das ohnehin kostspielige Mandat außerdem zu einem echten ›Geldfresser‹. »Am Liebsten säße ich mit dem ganzen Plunder stante pede auf die Bahn & führe der Heimat zu, wir haben’s nachgerade mehr als satt«, schrieb von Payer denn auch schon Ende April 1877 an seine Frau. Seinen Worten und dem widrigen Start zum Trotz blieb er dann doch in Berlin und behielt sein politisches Mandat fast durchgängig 41 Jahre lang.

Die meisten Abgeordneten haben über ihre Erfahrungen als Parlamentarier Aufzeichnungen, Notizen, zum Teil auch Tagebücher, vor allem aber eine umfangreiche Korrespondenz hinterlassen.

Diese Briefe sind nicht nur von herausragender sozialgeschichtlicher Bedeutung, sondern auch hoch politisch: Sie geben sowohl Aufschluss über das Rollenverständnis der Abgeordneten als auch über das sich abzeichnende und häufig kritisch betrachtete Sozialprofil des modernen ›Berufspolitikers‹. Gleichzeitig ermöglichen sie tiefe Einblicke in den Alltag gewählter Volksvertreter zwischen Beruf, Familie und politischer Aktivität.

Projekt

Der von der DFG geförderte, neue KGParl-Forschungsschwerpunkt ›Abgeordnetenleben 1871–1918‹ nimmt diese von der Geschichtswissenschaft bisher vernachlässigte Quelle zum Ausgangspunkt, um die sozialen und kulturellen Grundlagen parlamentarischer Repräsentation zu erforschen.

Das im Januar 2021 angelaufene Projekt ist ein Gemeinschaftsvorhaben mit der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (München). Untersuchungszeitraum sind die Jahrzehnte nach der Gründung des Deutschen Reiches, in denen sich das parlamentarische Mandat vom Ehrenamt zu einer quasi beruflichen Tätigkeit entwickelte.

Quellen

Wie sich die Lebenswelten von Abgeordneten durch die ›Verberuflichung‹ der Politik veränderten, wird aus der umfangreichen Korrespondenz mit ihren engsten Vertrauten rekonstruiert. Ausgewertet wird der in den Nachlässen aufbewahrte, lange als ›unpolitisch‹ abqualifizierte und daher bislang fast unbeachtete ›private‹ Briefwechsel von Mitgliedern des Reichstags und preußischen Abgeordnetenhauses. Die fortschreitende Aufspaltung ihrer ›Lebenswelten‹ ist ein Dauerthema der Kommunikation mit Familie und Freunden. Von zentraler Bedeutung ist dabei vor allem der Briefwechsel der Abgeordneten mit ihren Ehefrauen.

Monografie und Edition

Neben einer monografischen Betrachtung der Alltagsgeschichte und der Folgen der Professionalisierung für Parlamentarismus und Politik (Bearb. Lukas Moll, M.A.) wird eine digitale Brief-Edition (Bearb. Dr. Matthias Berg) die inhaltliche Vielfalt der durch das Projekt erschlossenen Themenfelder abbilden, die in diesen Dialogen zur Sprache kommen.

Projekt-Kontakt

Lukas Moll, Andreas Schulz