Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich
Die Reichsgründung zwischen 1866 und 1871 schuf einen Nationalstaat, aber noch kein nationales Gemeinschaftsbewußtsein. Die Loyalität der Bevölkerung zum Reich nahm mit wachsender Entfernung vom preußisch-protestantischen Gravitationszentrum des Reiches ab. Auch nach 1871 war es im »Parterre der Gesellschaft« vielfach nicht üblich, die eigenen politischen, sozialen und kulturellen Konflikte in den Kategorien des Nationalstaates zu deuten, also Dinge miteinander zu verbinden, die im Alltag nichts miteinander zu tun hatten. Ältere Formen des regionalen Eigenbewußtseins und die nationale Einheit füreinander anschlußfähig zu machen, stellte eine der großen Herausforderungen für den ersten deutschen Nationalstaat von 1871 dar. Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 löste diese Aufgabe durch die politischen Institutionen des Reichstages und des Bundesrates. Die soziale Reichweite und Geltung der Vorstellung Nation und der abstrakten Größe Reich hing entscheidend von der Entgrenzung und Ausweitung lokaler und Identitäten durch Verkehr und Kommunikation, von der Durchsetzung von Rechtseinheit und Rechtsgleichheit und von neuen Formen kultureller Konsensstiftung ab. In die alltägliche Wahrnehmung seiner Bewohner drang das Reich durch wirtschaftsnahe, rechtliche und kulturelle Integrationsprozesse vor: durch Bahn und Post (Umschlagabbildung: Die Allegorie der »Post« auf dem Oberpostdirektionsgebäude in Leipzig), durch die Freiheit bei der Wahl des Arbeitsortes und die mitwandernde soziale Unterstützung im Verarmungsfall sowie durch die Volksschule und die politischen Feiern. In ihnen bildete sich zwischen 1871 und 1890 durch Kompromisse, Konflikte und gemeinsame Vorteilsbildungen ein neues Verhältnis zwischen Reich und Region heraus. Dieses Buch vertritt die These, daß die innere Nationsbildung nach 1871 auch Regionsbildung bedeutete. Der innere Ausbau des ersten deutschen Nationalstaates stellte eine nachhaltige Herausforderung an die Integrationsfähigkeit der deutschen Einzelstaaten dar, der diese Zug um Zug nachkamen. Sowohl das Reich als auch die Region verzeichneten in der Bismarckzeit einen parallelen Bedeutungsgewinn. Deshalb wurde aus dem latent sezessionistischen Partikularismus der reichsverträgliche Föderalismus. Vor dem Hintergrund der heutigen europäischen Integration gewinnt die Integrationsforschung im Deutschen Kaiserreich eine neue Bedeutung, zumal der deutsche Föderalismus als ein mögliches Modell für die politische Ordnung der Europäischen Union gilt.