Lebenswelten von Abgeordneten in Europa 1860–1990
Der dritte, von Adéla Gjuričová, Andreas Schulz, Luboš Velek und Andreas Wirsching herausgegebene Band der Veröffentlichungsreihe »Parlamente in Europa« thematisiert historische Wahrnehmungen und Erfahrungen parlamentarischer Akteure in Europa. Für jeden Abgeordneten war, so die konzeptionelle Prämisse, das subjektive Erleben identisch mit der »Wirklichkeit« des Parlamentarismus selbst. Individuelle Erwartungen und Fremdeinschätzungen präformierten besonders bei Parlamentsneulingen die Einstellungen zur parlamentarischen Praxis und nahmen künftiges Erleben und Handeln vorweg.
Die Beiträge des ersten Kapitels behandeln die institutionellen Handlungsbedingungen, die durch Parlamentsrecht, Geschäftsordnung, Regeln und Konventionen vorgegeben sind. Das Wahrnehmungsfeld der Abgeordneten wurde durch diesen Handlungsrahmen strukturiert, sie arbeiteten und lebten in einer konkreten Umwelt institutionell definierter Rollenbeziehungen. Die Beiträge des zweiten Abschnitts widmen sich der Erfahrungsdimension des parlamentarischen Alltags. Sie gehen u. a. der Frage nach, wie die Abgeordneten auf institutionelle Anforderungen reagierten, wie sie die parlamentarische Praxis gestalteten und vor allem, wie sie diese bewerteten. Der dritte Teil des Bandes befasst sich mit den Arbeitsbeziehungen der Abgeordneten zur Medienöffentlichkeit. Die Kommunikation mit und über Medien bildete mehr und mehr einen eigenen Referenzrahmen parlamentarischen Handelns. Die Medienwelt konstituierte eine eigene Dimension der Wirklichkeitserfahrung. In den Beiträgen geht es um das Bemühen der Abgeordneten, ihr öffentliches Erscheinungsbild zu kontrollieren, kritischen Urteilen zu begegnen und sich auf die Eigenlogiken und technischen Voraussetzungen der Mediensysteme einzustellen.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen des vergleichend angelegten Bandes zählen die relativ stabilen Wahrnehmungsmuster, in denen Abgeordnete in Europa parlamentarische Lebenswelten reflektierten. Der durch Professionalisierung, Komplexität und Medienkommunikation geprägte Berufsalltag schien die private Zeit zunehmend zu konsumieren. Die Erfahrung von systembedingten Autonomieverlusten und Fremdbestimmung erzeugte in der Wahrnehmung der Parlamentarier eine professionelle Parallelwelt, so dass die Abgeordneten den Kontakt zur »Wirklichkeit« und zum »eigentlichen« Leben zu verlieren drohten. Die Konstituierung einer separaten parlamentarischen Lebenswelt wurde indes als unausweichliche Systembedingung einer Politikerkarriere akzeptiert. Die skeptische Berufsauffassung, die Parlamentarier in Europa artikulierten, bestätigte ungewollt auch die Standardargumente linker wie rechter Parlamentarismuskritik.