Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands
Die Deutsche Zentrumspartei, parlamentarische Repräsentanz der in Kulturkampf zu »Reichsfeinden« abgestempelten katholischen Minderheit im deutschen Kaiserreich von 1871, verfügte seit 1890 im Reichstag permanent über eine parlamentarische Schlüsselstellung zwischen »rechter« systemkonformer und »linker« systemtranszendierender Mehrheitsbildung. In welcher Richtung die Entscheidungen fielen, hing ganz wesentlich davon ab wie die sozialen Umwalzungen, die die Hochindustrialisierung mit sich brachte, in der sozial heterogenen und politisch in vielen Farben schillernden Zentrumspartei verarbeitet wurden. So hinderte der Aufbruch einer populistischen Massenbewegung mittel ständischer Bauern, Handwerker und Gewerbetreibender die Zentrumsführer zu Beginn der 1890er Jahre daran, sich mit dem autoritären Staat so abzufinden, wie es Bismarck angestrebt hatte und konservative Aristokraten und Bischöfe wünschten. Stattdessen setzte ein hartnäckiges Ringen zwischen Zentrum und Reichsleitung ein, das wiederholt an den Rand eines Staatsstreichs von oben führte und erst mit dem Kompromiß des Flottengesetzes von 1897/98 endete. Als die Populisten dann noch Verstärkung aus den Reihen einer autonomen katholischen Arbeiterbewegung erhielten, war auch dieser Kompromiß nicht mehr zu halten, und rückten folglich im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende Demokratisierung und Parlamentarisierung immer näher.
Daß die traditionellen Autoritäten noch einmal eine Schonfrist erhielten – deutlich sichtbar an Ausgang der Reichsfinanzreform von 1909 – war im wesentlichen dem Umstand zu verdanken, daß sich populistische Bewegung und Arbeiterbewegung unter dem Eindruck des definitiven Übergangs zur Industriegesellschaft auseinanderdividieren ließen und ein Teil der populistischen Kräfte sein Heil nun im Bündnis der vorindustriellen Eliten suchte. Eine Stabilisierung der Bismarckschen, Ordnung wurde freilich auch damit nicht erreicht: vielmehr gewannen am Vorabend des Ersten Weltkriegs die bürgerlichen Kräfte im Zentrum dominierenden Einfluß. Im Verein mit den übrigen Mittelparteien arbeiteten sie auf die Etablierung eines bürgerlich dominierten Klassenstaates hin, in dem die politische Macht im Parlament konzentriert war, die politische Mitwirkung der breiten Massen aber zugleich ausgeschlossen blieb. Im Weltkrieg führte die Polarisierung zwischen bürgerlich dominierter Mehrheit und Arbeiterbewegung schon im Frühjahr 1917 an den Rand der Revolution; durch die »Friedensresolutions«-Aktion des Zentrumsführers Matthias Erzberger konnte sie zwar verschoben, aber nicht mehr auf Dauer verhindert werden.
Wilfried Loth schildert diese Entwicklungen und Umbrüche unter Auswertung einer breit gestreuten archivalischen Überlieferung zur internen Diskussion des politischen Katholizismus und in Auseinandersetzung mit der kontroversen Spezialliteratur zur politischen und sozialen Geschichte des Kaiserreichs. Seine Analysen münden in die These, daß die Mitwirkung des politischen Katholizismus nicht nur für die Schaffung einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland unerläßlich war, sondern daß diese Demokratie, als sie dann nach 1918 Realität wurde, insbesondere auch infolge des vielschichtigen Verhältnisses des Katholizismus zu der neuen Staatsform auf wenig stabilen Grundlagen beruhte.