Journalist mit Mandat. Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und ihre Arbeit in der Parteipresse 1867 bis 1918
Ein Abgeordneter, der im Plenarsaal während der Debatten diskret seinen Hauptberuf ausübt: Als Chefredakteur einer größeren Tageszeitung bestimmt er Inhalte seines Blattes, formuliert er Leitartikel. In der Bundesrepublik von heute ist eine solche Berufsdopplung fast undenkbar. Zwar ist das Verhältnis der Politiker zu den Medien ein inniges. Schlagworte wie »Innere Ausgewogenheit« markieren den parteilichen Mitteilungsdrang. Viele Redakteure und Journalisten entscheiden sich für die politische Laufbahn (man lese die Berufsbezeichnungen der Bundestagsabgeordneten), nur: Die Berufskombination Abgeordneter Redakteur ist fast unmöglich. Vom politischen Einflußdrang einmal abgesehen muß kein Parlamentarier sich aus ökonomischen Gründen bei den Medien verdingen. Der »Journalist mit Mandat« oder redaktionell tätige Abgeordnete ist in einer Zeit der deutschen Parlamentsgeschichte zu suchen, in der keine oder wenig Diäten gezahlt wurden, und unter den Parlamentariern einer Partei, die ihre Anhänger aus den untersten Schichten der Bevölkerung rekrutierte. 1867 kamen die ersten nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht bestimmten Volksvertreter zum konstituierenden Reichstag innerhalb des Norddeutschen Bundes zusammen. Die losen Parteiformationen, die seit der Paulskirche bestanden, festigten sich, der Kampf um die Wählerstimmen entbrannte. Die Zeitung gewann als politisches Instrumentarium neben den rednerischen Feldzügen der angehenden Volksvertreter immer mehr an Bedeutung Die konservativen Parteien nutzten die schon bestehenden bürgerlichen Zeitungen; der jungen Sozialdemokratie – mit dem Ruf einer Umsturzpartei – waren diese Zeitungen versperrt. Man gründete neue Blätter. Bis zur Jahrhundertwende konnte die Sozialdemokratie, nur kurz gebremst durch das Sozialistengesetz, einen beachtlichen Presseapparat aufbauen. Die Parteipresse hatte Hochkonjunktur. Die Redaktion dieser Blätter besorgten die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, die, meist aus dem Handwerk und der Arbeiterschaft kommend, ihren eigentlichen Beruf mit dem Eintritt ins Parlament aufgeben mußten. Eine Verbindung von Mandatsausübung und normaler Lohnarbeit war unmöglich. Waren diese Sozialdemokraten nun Journalisten wider Willen? Wie fanden sie sich in ihrem neuen Beruf zurecht? Wie erfüllten sie den doppelten Berufsanspruch? In der vorliegenden Veröffentlichung kommen sie selbst zu Wort, Anhand ihrer Biographien, durch ihre Beiträge auf Parteitagen, unveröffentlichten Tagebücher und Briefe wird ihr journalistisches und politisches Arbeitsfeld dokumentiert. Weiter liefert die Veröffentlichung Materialien zu einer Geschichte der Parteipresse der Sozialdemokratie, sie beschreibt die Rolle dieser Presse innerhalb der Partei und den Stellenwert bei Richtungskämpfen in dieser Zeit. Im Anhang finden sich 215 Kurzbiographien aller sozialdemokratischen Abgeordneten im Zeitraum 1867 bis 1918 mit genauen Zeitangaben zu ihrer parlamentarischen und journalistischen Tätigkeit.