Ideologie statt Realpolitik. Kleindeutsche Liberale und auswärtige Politik vor der Reichsgründung

Daß im liberalen Denken über die Staatenwelt hochexplosive Sprengsätze angelegt waren, ist eine Vermutung, die schon große Historiker wie Friedrich Meinecke oder Franz Schnabel hatten. Auf breiter Quellengrundlage unter sucht diese Studie die außenpolitische Gedankenbildung der kleindeutsch-orientierten Liberalen zwischen Revolution und Reichsgründung. Wie schauten Männer wie Rudolf von Bennigsen, Gustav Freytag oder Karl Twesten auf die Welt, und wie sahen sie die europäischen Nachbarn? Auf welchem Weg wollten sie die deutsche Einheit erlangen, das zentrale Ziel ihres politischen Wünschens und Wollens? Was bedeuteten ihnen Krieg und Frieden? Und wie dachten sie über die Stellung eines vereinten Deutschlands in der Welt? Rasch wird deutlich, daß das Weltbild der Nationalliberalen von großer Aggressivität geprägt war und daß sie keinen Sinn für die kritische Größe des geeinten Deutschlands im Herzen des Kontinents besaßen – im Gegenteil: Sie glaubten fest daran, das zukünftige Deutsche Reich werde als Hegemonialmacht den Frieden in Europa dekretieren können. Daß die anderen Staaten einen solchen Zustand lediglich als Friedhofsruhe empfunden hätten, kam ihnen nicht in den Sinn. Die kleindeutsch-orientierten Liberalen wollten Außenpolitik ohne das Ausland treiben. Vor diesem Hintergrund ist der tatsächlich eingeschlagene Weg zur Reichsgründung neu zu bewerten. Jedenfalls ist gewiß, daß in den konkreten Entscheidungssituationen während der zwei Dekaden zwischen Revolution und Reichsgründung eine friedlichere Alternative nationalliberaler Provenienz nicht zur Verfügung gestanden hat. Als Habilitationsschrift von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn im Sommersemester 2004 angenommen, wurde die Arbeit von Harald Biermann mit dem Preis der Wolf-Erich-Kellner-Gedächtnisstiftung ausgezeichnet.