Die Wahlrechtsfrage in der Geschichte der deutschen liberalen Parteien 1848–1918

Die Verfaßungswirklichkeit des modernen Staates zeigt, wie sehr das Wahlrecht stets umkämpft ist, da von ihm in hohem Maße abhängt, welche Macht einer politischen Partei zuteil werden kann. Allgemeines oder beschränktes Wahlrecht waren die Streitpunkte, die in der Frühzeit der deutschen parlamentarischen Geschichte aufeinanderprallten. Die Parteien, die zu dieser Frage Stellung nehmen mußten, hatten damit gleichzeitig ihre Vorstellungen von der gesellschaftlichen Ordnung und der politischen Bedeutung einzelner sozialer Schichten zu äußern. In der Stellungnahme zur Wahlrechtsfrage spiegelt sich der soziologische Standort einer Partei.

Gagel unternimmt es, dieses Problem an der Geschichte der deutschen liberalen Parteien zu untersuchen, um die soziologischen Bedingungen für deren Niedergang zu erhellen. Dem bürgerlichen Charakter der liberalen Bewegung entsprach ein beschränktes Wahlrecht, durch das die unteren Volksschichten von der Wahl ausgeschlossen wurden. Nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts durch Bismarck hing die Zukunft der liberalen Parteien davon ab, ob es ihnen gelingen würde, die neuen Wählermassen für sich zu gewinnen. An der Auseinandersetzung über die soziale Frage in den 70er Jahren wird dargestellt, daß die Liberalen auf ihrem bürgerlichen Standpunkt verharrten und nicht bereit waren, die sozialen Wünsche der unteren Volksschichten zu erfüllen. Die große Masse der Wähler wandte sich daher der Sozialdemokratie zu, während die liberalen Parteien sich zu bürgerlichen Klassenparteien entwickelten. Dadurch legten sie sich aber auf einen zahlenmäßig so beschränkten soziologischen Raum fest, daß ihnen in den späteren Jahren kein entscheidender politischer Durchbruch mehr gelingen konnte. Das erste Jahrzehnt des Kaiserreiches brachte somit bereits die Wende in der Geschichte der liberalen Bewegung. – Die auf breiter Quellenbasis aufgebaute Untersuchung stellt nicht nur einen Beitrag zur Parteiengeschichte dar, sondern wirft auch ein Licht auf die historischen Wurzeln der heutigen Situation des Liberalismus.

Von
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus u. der politischen Parteien, Bd. 12
Erscheinungsjahr
Sprache
Deutsch
Seiten
198
Format
Leinen mit Schutzumschlag