Der Kampf um die Wahlfreiheit im Kaiserreich 1871–1914. Parlamentarische Wahlprüfung und politische Realität der Reichstagswahlen
Ungeachtet des vergleichsweise fortschrittlichen Wahlrechts im Kaiserreich stand bei den Reichstagswahlen der Grundsatz der freien Wahl – heute Voraussetzung der demokratischen Legitimation parlamentarischer Körperschaften – noch keineswegs unverbrüchlich fest. Nach jeder Reichstagswahl wurden unzulässige Wahlbeeinflussungen oder ein fehlerhaftes Wahlverfahren moniert. Das weithin sichtbare Forum, auf dem der Streit um die Wahlfreiheit geführt wurde, war die Wahlprüfung im Reichstag, Hier konnten Zeugen befragt, Beweise erhoben werden. Der Reichstag allein entschied, ob ein Mandat annulliert wurde oder nicht, und durch seine Voten konnte er normative Vorgaben für künftige Wahlen machen. Die Auswertung der Wahlprüfungsakten des Reichstags, die zu den Entdeckungen der jüngeren historischen Wahlforschung zählen, zeigt, mit welchem Erfolg und Engagement das Parlament zur Sicherung der Wahlfreiheit und damit zur Modernisierung des Kaiserreichs beitrug. Bis in die neunziger Jahre hinein setzte der Reichstag sein Recht, Wahlen zu prüfen, häufig als Hebel ein, um die Freiheit der Wähler und die eigene Stellung gegenüber der Regierung zu verbessern. Nach der Jahrhundertwende jedoch richtete sich die regierungsnahe Mehrheit bei der Legitimation der Mandate zunehmend an den Interessen der Reichsleitung aus und trug damit weder zur Demokratisierung noch zur Parlamentarisierung bei.